- 18.02.1993 — Mordfall Kerstin Winter: Ermittlungsfehler, Irreführung
- 09.03.1993 — Weiter völlige Unklarheit im Mordfall Kerstin Winter
- 31.03.1993 — Neue Verhaftung im Fall Kerstin Winter
- 08.05.1993 — Im Mordfall Kerstin Winter: Ermittlungen nun auch in Konstanz
- 11.05.1993 — Mord an Kerstin Winter
Mordfall Kerstin Winter: Ermittlungsfehler, Irreführung
Die Ermittlungen im Fall Kerstin Winter, die am 22. Januar mittels einer Paketbombe getötet worden war, haben bis zum vergangenen Montag, dem 18. Tag der Ermittlungen der Freiburger Sonderkommission noch keinerlei brauchbare Hinweise auf den oder die Täter gebracht. Verschiedenste Gerüchte, von diesen Behörden selbst oder von Medien in Umlauf gebracht und durch die Ermittlungstätigkeit angeheizt, haben sich zwischenzeitlich als völlig haltlos erwiesen. Es ist gegenwärtig zu befürchten, daß die Ermittlung der Täter wegen des Zeitablaufs immer schwieriger, wenn nicht ganz unmöglich wird.
Nachfolgend eine Chronologie des bisherigen Ermittlungsverfahrens, die zeigt: die Arbeit der Freiburger Kriminalbehörden in diesem Fall erweist sich als Anhäufung von Ermittlungsfehlern und -Versäumnissen sowie (teilweise bewußte) Irreführung von Presse und Öffentlichkeit:
22. Januar: Die 24jährige Krankenschwesternschülerin Kerstin Winter wird beim Öffnen eines vor der Wohnungstür abgelegten Pakets durch die Explosion eines darin enthaltenen Sprengsatzes getötet. Ihr zu dieser Zeit in der gemeinsamen Wohnung anwesende Freund Uwe B. bleibt unverletzt. Die Umstände der Tat und die Tatsache, daß die Ermordete politisch aktiv war (ein „Verein zur Förderung der Subkultur“ firmierte unter ihrer Adresse, gleichzeitig arbeitete sie in einer Gruppe „Punks gegen Langeweile“ mit, die sich öffentlich für ein autonomes Jugendzentrum in Freiburg einsetzt) machen Vermutungen, den oder die Täter im faschistischen Lager zu suchen, wahrscheinlich.
23. Januar: Die Freiburger Staatsanwaltschaft erklärt auch für die durch Beamte des LKA verstärkte Sonderermittlungsgruppe der Polizei man „ermittle in alle Richtungen“. Gleichzeitig gab man der Presse gegenüber zu erkennen, daß man einen politischen Anschlag (aus rechten Kreisen) für unwahrscheinlich halte. Solche Vermutungen seien zwar „aus laienhafter Sicht“ naheliegend, im konkreten Fall aber eher unwahrscheinlich.
24. Januar: Zeitgleich mit der Demonstration von über 4.000 in Freiburg veranstaltet das LKA eine Pressekonferenz, auf der sie ihre Theorie über die Täter präsentiert: Das Bombenpaket trug als Absenderangabe in Blockschrift den aus den Papierfetzen rekonstruierten Schriftzug „Mord Rim“ in einer fiktiven Freiburger „Silberstraße 100“, die in Berlin tatsächlich existiert. RIM ist die Abkürzung für „Revolutional International Movement“, eine maoistische Dachorganisation, in der sich mehr als 18 verschiedene maoistische Gruppen und Parteien zusammengeschlossen haben, als bekannteste die PCP, bekannter unter dem Namen „Sendero Luminoso“ (Peru), in Deutschland u.a. die TKP/ML. Die Tatsache, daß Anhänger der TKP/ML in Westberlin mehrfach Schlägereien mit Anhängern autonomer Gruppen hatten begründe die Suche nach den Tätern im „linksextremen Spektrum“.
28. Januar: Wie erst später bekannt werden sollte, ist die Polizei bereits seit dem Mordtag in Kenntnis davon, daß die Bombe in drei Exemplaren der Badischen Zeitung vom Sommer 1991 eingewickelt war. In einer befand sich ein Artikel, der über Aktivitäten der Initiative für ein autonomes Jugendzentrum und den Verein zur Förderung der Subkultur berichtete. Pressevertreter werden bei ihren Recherchen vom die Ermittlungen leitenden Oberstaatsanwalt Fluck gebeten, diese Tatsache zunächst nicht zu veröffentlichen, um weitere Ermittlungserfolge nicht zu gefährden. Während also Pressevertreter im Glauben gehalten wurden, man ermittle nun doch in eine politische Richtung, wurde gleichzeitig der Freund der Ermordeten langen und wiederholten Verhören unterzogen.
29. Januar: Uwe B., der Freund Kerstins, wird unter dem Vorwand ein Detail seiner Zeugenaussagen noch einmal ins LKA geholt. Dort wird ihm seine vorläufige Festnahme erklärt und gleichzeitig die Wohnung seiner Mutter Winter ohne Durchsuchungsbefehl nach belastendem Material durchsucht. Die Staatsanwaltschaft verhängt eine Nachrichtensperre.
30. Januar: Oberstaatsanwalt Fluck beantragt einen Haftbefehl gegen Uwe B. Dringender Tatverdacht sei gegeben, weil in seinem Betrieb an dort befindlichen Feuerlöschern Druckbehälter fehlten, wie sie auch für den Bombenbau verwendet worden sind. Außerdem käme als Täter nur jemand in Frage, der zum engsten Kreis um die Getötete gehöre, weil die Bombe auf Grund ihrer Konstruktion jedenfalls nicht über weite Strecken transprtabel gewesen sei, ohne zu riskieren, daß der Zünder ausgelöst wird. Obwohl der Verteidiger des Beschuldigten noch im Haftprüfungstermin auf die einseitige Ermittlungstätigkeit der Behörde hinweist, und ausdrücklich rügt, daß dem zuständigen Richter wichtige Aktenteile vorenthalten werden (so fehlt jeder Hinweis auf das Zeitungsexemplar, mit dem die Bombe eingepackt war), wird Haftbefehl erlassen.
3. Februar: Der Haftbefehl wird ohne weitere Auflagen aufgehoben und Uwe B. aus der Haft entlassen. Grund: Der Feuerlöschertyp am Arbeitsplatz des Verdächtigten ist nicht identisch mit dem zum Bombenbau verwandten, was auch ein Laie auf den ersten Blick hätte erkennen können. Das Schriftgutachten des LKA beschreibt einen Grad der Wahrscheinlichkeit der Täterschaft, die für 14 Millionen der 80 Millionen Bundesbürger zutrifft. Die Behauptung, die Konstruktion der Bombe habe sie nicht transportabel gemacht, fällt ebenso in sich zusammen und damit die These, ein Täter müsse aus dem persönlichen Umfeld stammen. Dies wird allerdings erst zwei Tage später bekanntgegeben. Die Staatsanwaltschaft behauptet gleichwohl weiter erhebliche Verdachtsgründe gegen Uwe B.
Quelle: Antifaschistische Nachrichten vom 18. Februar 1993
Weiter völlige Unklarheit im Mordfall Kerstin Winter
Sechs Wochen nach dem Mordanschlag auf die Freiburger Krankenschwesterschülerin scheinen die Ermittlungsbehörden immer noch keine handfesten Spuren ermittelt zu haben.
Trotz der im LKA vorhandenen modernsten Analysemethoden, liegt bis heute ein Gutachten über die Zusammensetzung des Sprengstoffes, der in dem Bombenpaket verwendet worden war, immer noch nicht vor. Es wurde am 3.3. von der Freiburger Staatsanwaltschaft „für Ende kommender Woche“ angekündigt. Gleichzeitig hat die Staatsanwaltschaft eine Flugblattaktion gestartet, mit der alle Fahrgäste von Straßenbahn- und Buslinien, die am Tattag zur Zeit der Explosion in der Nähe des Tatorts unterwegs waren, aufgefordert wurden, sich bei der Polizei zu melden. Die Aktion habe „einen konkreten Hintergrund“, der aber „aus ermittlungstaktischen Gründen“ nicht veröffentlicht werden könne. Trotzdem hält die Staatsanwaltschaft zumindest gegenüber der Öffentlichkeit an einem angeblich weiter bestehenden Verdacht gegen der Freund der Getötetet fest.
Eine Dienstaufsichtsbeschwerde des Anwalts des kurzeitig inhaftierten Freunds von Kerstin Winter wegen der schleppenden Ermittlungen durch den zuständigen Staatsanwalt Fluck, wurde zwischenzeitlich durch den Leiter der Freiburger Staatsanwaltschaft zurückgewiesen. Seine gegen den Chef der Freiburger Sonderkommission angestrengte Dienstaufsichtsbeschwerde mit dem Ziel, seine Ablösung zu erreichen, wurde aus Stuttgart noch nicht abschließend beantwortet. (kh)
Quelle: Antifaschistische Nachrichten vom 9. März 1993
Neue Verhaftung im Fall Kerstin Winter
Freiburg. Auf Grund eines Unterbringungsbefehls der Staatsanwaltschaft wurde jetzt ein früherer Freund der Getöteten in einer psychiatrischen Klinik untergebracht. (Statt Haftbefehl wird Unterbringungsbefehl erlassen, wenn der Verdächtige vermutlich wegen seelischer Krankheit schuldunfähig ist.) Die Staatsanwaltschaft begründet seine Inhaftierung mit verschiedenen, ihr eigentlich von Anfang an bekannten Indizien. Obwohl seine Beziehung zu Kerstin Winter schon sieben Jahre zurückliegt und zwischenzeitlich kein Kontakt mehr bestand, geht die Staatsanwaltschaft wegen der angeblichen psychischen Erkrankung, die gegenwärtig gutachtlich untersucht wird, von der Schuld des Verhafteten aus. Der kurzzeitig festgenommene Freund der Getöteten, der nun erheblich entlastet wurde, steht für die Staatsanwaltschaft immer noch unter Tatverdacht. Sein Anwalt: „Rückzugsgefechte“.
(kh) (aus: Lokalberichte Baden-Württemberg „Aus der Landespolitik“)
Quelle: Antifaschistische Nachrichten vom 31. März 1993
Im Mordfall Kerstin Winter: Ermittlungen nun auch in Konstanz
Am 10. März nahm die Polizei einen Mann fest, der vor sieben Jahren Kerstins Freund war und der sie nun mit einer Paketbombe ermordet haben soll.
Motiv sei laut Staatsanwaltschaft die nie überwundene Trennung gewesen. Die „Indizien“ seien, daß er Transitorbatterien der selben Marke und ein Stück „mit großer Wahrscheinlichkeit vergleichbaren Drahtes“ wie sie beim Bau der Bombe verwendet worden seien, in seiner Wohnung gefunden wurden.
Mehr Hinweise auf die Tat konnte die Polizei bei der Durchsuchung nicht finden. Ebensowenig brachte eine vorherige Beschattung des Mannes ein überzeugendes Ergebnis. Nach drei Wochen Beschattung habe er ein Stück Draht in einen Bach geworfen, daraufhin wurde er festgenommen. Das Konstrukt ähnelt dem der Festnahme des ersten Tatverdächtigen, des Freundes von Kerstin.
Dieser wurde einen Tag vor dem Haftprüfungstermin freigelassen. Der jetzige Tatverdächtige wurde vor dem Haftprüfungstermin in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.
In einer Stellungnahme der Infogruppe Kerstin aus Freiburg heißt es: „Wir wissen nicht, ob er es gewesen sein könnte oder nicht — wir kennen ihn nicht“. Dennoch schenken sie dem Konstrukt wenig Glauben. Es ähnle dem ersten Tatverdacht, es gäbe kein nachvollziebares Motiv für eine derartige Tat, die „Indizien“ bezögen sich auf Gegenstände wie sie wohl in jedem Haushalt zu finden seien und Beweise könnte die Polizei nicht präsentieren.
Die entscheidende belastende Aussage stamme von einem Bekannten des Beschuldigten, der offen seine Antiphatie gegen diesen äußert, sie würde in Formulierungen wie „ich könnte mir vorstellen, daß“ bestehen.
Die Polizei hat den erneuten Tatverdächtigen mit großem Erfolg der Öffentlichkeit als Täter präsentiert. Dies liegt sicher mit daran, daß dieser nicht in politischen Zusammenhängen tätig und eine Gegenöffentlichkeit nur schwer möglich war, weil ihn niemand kennt. Dennoch sind die Widersprüche, in die sich die Polizei verwickelt derart groß, daß sie bei einem Tatverdächtigen längst zur Festnahme geführt hätten. So behauptete sie bei ihrem ersten Konstrukt der „linksterroristischen Gruppe“ die Bombe sei von einer derartigen Proffesionalität gewesen, daß dies Nahe läge. Nun soll die selbe Bombe ein nach ihren Angaben „psychisch Kranker“ gebaut und die Tat geplant und durchgeführt haben.
Ungeachtet ihres „Täters“ laufen die Ermittlungen der Polizei auf Hochtouren weiter. Private und politische Zusammenhänge Kerstins werden mit einem schier unglaublichen Eifer durchforstet. Dabei sind die Ermittlungen längst nicht mehr auf Freiburg begrenzt. Es ist bekannt, daß linke Zusammenhänge in Berlin, Tübingen und auch Konstanz von der Polizei belästigt werden.
In Konstanz wurden in zwei Fällen WGs aufgesucht bzw. angerufen, wo Mitglieder des ehemaligen Juze statt Plastik e.V. wohnen. Dabei wurde nie klar, was die Beamten denn eigentlich genau wollen. In beiden Fällen bezogen sich die Kripobeamten auf angebliche Adress- bzw. Tagebücher von Kerstin, in denen die Telefonnummern der WGs gestanden haben sollen. In einem Fall behauptete die Polizei, die Telefonnummer sei mit dem Namen der Telefonanmelderin und dahinter mit dem Vornamen eines „Juze statt Plastik“ Mitgliedes notiert. Dieser ist allerdings erst zu einem Zeitpunkt kurzfristig dort eingezogen, zu dem Kerstin bereits Tod war. Sie hätte diese Notiz also danach vornehmen müssen. Im Falle der anderen WG ermittelten sie auch gegen eine Frau, die früher dort wohnte und in Konstanzer Frauenzusammenhängen aktiv ist. Ein weiterer Fall ist von einem Konstanzer Juze-Aktiven bekannt, der telefonisch belästigt wurde.
Am Dienstag, den 13. Mai, wird es in der Infokneipe im Kulturladen eine Veranstaltung mit VertreterInnen der Infogruppe Kerstin geben. In dieser soll insbesondere auf diese und andere Ermittlungsmethoden der Polizei eingegangen werden. (jüw)
Quelle: Antifaschistische Nachrichten vom 8. Mai 1993
Mord an Kerstin Winter
In der ersten Ausgabe des Tacheles (PDF) erschien unter dem Titel „Mord an Kerstin Winter“ ein Artikel zu einer Veranstaltung im Kulturladen Konstanz am 11. Mai 1993.