Der Polizeieinsatz während einer Veranstaltung des „Do it yourself – Festivals“ am 29.07.2006 hatte in der Öffentlichkeit für großes Aufsehen gesorgt. Vielfach ist die Verhältnismäßigkeit des „Freiburger Kessels“ in Frage gestellt und sogar in einer Anfrage im Landtag von Baden-Württemberg thematisiert worden.
Nachdem ein Betroffener im Klageweg die Maßnahmen beanstandete, bleibt eine rechtliche Würdigung dem Verwaltungsgericht überlassen. Dieses wird seine Entscheidung voraussichtlich davon abhängig machen, ob eine Versammlung vorgelegen hat.
Nach bisherigem Sachstand ist davon auszugehen, dass die Veranstaltung, an der der Kläger teilnehmen wollte, als Versammlung i.S.v. Art 8 GG zu qualifizieren ist. Sämtliche Maßnahmen der Beklagten (das Bundesland Baden-Württemberg) müssen daher auf Grundlage des Versammlungsgesetzes (VersG) beurteilt werden.
Die Versammlungsfreiheit zählt laut Bundesverfassungsgericht zu den „unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens“ und ist ein Freiheitsrecht, dem ein besonders hoher Stellenwert in der juristischen Fachwelt eingeräumt wird. Die Einschränkung dieses Grundrechts kann nur durch Bundesrecht, wie es im VersG seine Regelung findet, erfolgen. Nach dem VersG sind Maßnahmen, wie die Umschließung von Personen und die Erteilung von Platzverweisen nicht zulässig. Die Beklagte hätte demnach ganz eindeutig rechtswidrig gehandelt.
Die Beklagte bestreitet, dass die Veranstaltung als Versammlung zu qualifizieren ist. Letztlich bleibt ihr keine Wahl, weiß sie doch, dass sämtliche ihrer Maßnahmen erst nach förmlicher Auflösung der Versammlung gem. § 15 VersG auf Grundlage des Landespolizeigesetzes in Betracht gezogen werden konnten.
Es verwundert jedoch, dass diesbezüglich unterschiedliche Stellungnahmen und rechtliche Einschätzungen unmittelbar nach dem Polizeieinsatz und im schriftlichen Verfahren vorgetragen werden.
Laut BZ vom 31.07.2006 wurde von der Polizei der Einsatz u.a. damit begründet, dass „die Versammlung nicht angemeldet gewesen sei“. Weiterhin ging die Beklagte bei einzelnen Maßnahmen vom Vorliegen einer Versammlung aus, da u.a. nach eigener Einlassung Personen aufgrund des Verdachtes eines Verstoßes gegen das Vermummungsverbot kontrollierte und festnahm.
Die Behauptung, die Veranstaltung hätte keinen versammlungsrechtlich relevanten Charakter erkennen lassen, wird sich als haltlos herausstellen.
Einer „Reclaim the streets“ den Versammlungscharakter abzuerkennen, insbesondere die Teilhabe an der öffentlichen Willensbildung abzustreiten, bedeutet für die Teilnehmer und Teilnehmerinnen dieser Versammlungsform eine Beschneidung ihrer Rechte beim Prozess der politischen Willensbildung. Gerade in einem parlamentarischen Repräsentativsystem dürfen die Mitbestimmungsrechte des Bürgers nicht auf die Stimmabgabe bei Wahlen beschränkt sein. Die öffentlichen Einflussnahme auf den politischen Prozess, die Möglichkeit der Teilhabe und Erörterung an der Meinungsbildung sind außerparlamentarische Formen, die für die in der Verfassung festgeschriebene Willensbildung von unten nach oben unentbehrlich sind.
Das Festhalten am alten traditionellen Demonstrationsbild wird der Bedeutung des Art. 8 GG nicht gerecht. Bereits im bekannten „Brokdorf-Beschluß“ des BVerfG wurde ausgeführt, dass der Schutz „nicht auf Veranstaltungen beschränkt [ist], auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern […] vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen“ umfasst (BVerfG Beschluss vom 14.05.1985 – 1 BvR 233/81 und 1 BvR 341/81). Auch nach neuer Rechtsprechung ist anerkannt, dass der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit auch dann gegeben ist, „wenn sie ihre kommunikativen Zwecke unter Einsatz von Musik und Tanz verwirklichen“ (BVerfG Beschluß v. 12.07.2001 – 1 BvQ 28/01 und 1 BvQ 30/01). Sofern Zweifel bestehen, ob dem Gesamtgepräge nach eine Versammlung vorliegt, „bewirkt der hohe Rang der Versammlungsfreiheit, dass die Veranstaltung wie eine Versammlung behandelt wird“ (BVerwG Urteil v. 16.05.2007 – 6 C 23/06).
Die Veranstaltung ist demnach eindeutig vom Schutz des Art. 8 GG umfasst gewesen. Maßnahmen wie Identitätsfeststellung und Erteilung eines Platzverweises entbehren dadurch einer rechtlichen Grundlage.
Die Beklagte, insbesondere Polizeidirektor und Einsatzleiter J. Metzger, hat zwar im schriftlichen Vorverfahren bestritten, dass sie dem Kläger einen Platzverweis erteilte. Dass dies unzutreffend ist, wird im Termin bewiesen werden. Der Prozessbevollmächtigten des Klägers und dem Gericht liegt eine Videoaufzeichnung vor, die eine Lautsprecherdurchsage der Beklagten dokumentiert, in der sämtliche von der Umschließung Betroffene der Innenstadt verwiesen werden. Auch werden Zeugen diese Ansage bestätigen können. Es bleibt abzuwarten, ob die Beklagte auch im Termin an ihrer Behauptung festhält.
Dass dem Einsatzleiter nicht bekannt gewesen sein soll, dass es die besagte Lautsprecherdurchsage gegeben hat, weckt gravierende Bedenken hinsichtlich der Arbeitsweise und internen Organisation. Sollte tatsächlich eine so bedeutsame Maßnahme ohne Anordnung und Wissen des Einsatzleiters erfolgt sein, ist auf Kompetenzüberschreitung und mangelnde Kommunikation zwischen Leitung und Basis zu schließen und stellt die Handlungsfähigkeit des gesamten Polizeiapparates in Frage. Zudem müsste dieser Vorgang protokolliert worden sein, so dass zumindest eine nachträgliche Kenntnisnahme hätte erfolgen können.
Gerade bei Eingriffen in verfassungsrechtlich gewährleistete Schutzbereiche in solch einer bereits zahlenmäßigen Größenordnung ist von der Polizei eine besonders sorgsame Arbeitsweise zu verlangen. Wenn dies nicht gewährleistet ist, führt dies dazu, dass die Judikative polizeiliche Maßnahmen im Nachhinein nur eingeschränkt überprüfen kann. Im Vorfeld bedeutet dies, dass die Exekutive schlicht ignoriert, dass die höchstrichterliche Rechtssprechung für alle Verfassungsorgane und Behörden bindend ist.