Acht Jahre lang entsandten Freiburgs konservative WählerInnen den CDU-Politiker Matern von Marschall in den deutschen Bundestag. Er pflegte das Image eines katholischen Schwiegersohns, der sechs Sprachen spricht, Marke adliger Saubermann. Zumindest war das die offizielle Inszenierung, geradeso bigott wie die seiner römisch-katholischen Kirche: Vor seiner Zeit als Bundestagsabgeordneter soll Matern von Marschall fünf Jahre lang eine sexuelle Beziehung zu einer Minderjährigen gehabt haben, die zu Beginn des Missbrauchs erst 13 Jahre alt gewesen sein soll.
Aufgedeckt hat den Skandal ausgerechnet die Springer-Presse: Die Welt berichtete am 19. April 2022, ohne jedoch Matern von Marschall oder auch nur Freiburg beim Namen zu nennen. Angefangen haben soll es bei einen Jagdausflug 2007, bei dem das Mädchen von ihrem Paten „betatscht und geküsst“ worden sein soll. Es sei ihr schlecht gegangen, „als der Familienfreund mehr von ihr wollte. Nach WELT-Informationen verlor sie kurz vor der ersten Annäherung ihren Vater. Der mehr als 30 Jahre ältere väterliche Freund, den sie seit Kindesbeinen kannte, vermittelte ihr wohl in einem emotionalen Ausnahmezustand die Geborgenheit, nach der sie sich sehnte.“
Mit vollem Namen heißt er Matern Christoph Cajetan Freiherr Marschall von Bieberstein. Ein solcher Adelstitel ist bei Wahlen in Deutschland sehr hilfreich in einem konservativen Milieu, das durch die neuen sozialen Bewegungen tief verunsichert wurde. Selbst von dem Hakenkreuz auf dem Familiengrab mussten sich die von Bibersteins laut Stuttgarter Zeitung trennen, wenn auch erst 2014. Matern von Marschalls Wahlkampfslogan „Der von hier“ sollte Bodenständigkeit und Lokalkolorit transportieren und im BZ-Interview inszenierte sich der Bundestagskandidat 2021 als biederer Christ. Auf die BZ-Frage „Was gehört für Sie zu einem gelungenen freien Sonntag?“ antwortete er: „Ein Kirchgang und ein Mittagessen mit meiner Familie.“
„Sexueller Missbrauch in Reihen der Kirche ist seit über zehn Jahren ein viel diskutiertes Thema“ schreibt die Badische Zeitung im April 2022 anlässlich der erneuten Verschiebung eines „lange erwarteten Gutachtens der Freiburger Erzdiözese zu Fällen sexuellen Missbrauchs“ auf den Herbst. Aber im Gegensatz zur CDU hat die Erzdiözese eine Arbeitsgruppe „Machtstrukturen und Aktenanalyse“ eingerichtet, „um anhand exemparischer Missbrauchsfälle Verantwortlichkeiten und Formen der Vertuschung von Missbrauch zu analysieren und aufzuarbeiten.“ Die CDU hat immerhin Die Welt: „Abgründige Beziehung: Als es anfing, war der Unionspolitiker Mitte 40 – sie wohl erst 13“.
Am 23. Oktober 2020 wurde Matern von Marschall bei der Nominierungsversammlung in der Johann-Philipp-Glock Halle in Schallstadt von den CDU-Kreisverbänden Freiburg und Breisgau-Hochschwarzwald mit 92% zum Freiburger Direktkandidaten gewählt – er war der einzige Kandidat. Wussten die 56 CDU-Mitglieder, die ihn 2020 wählten, dass Matern von Marschall 2018 wegen schweren sexuellen Missbrauchs angezeigt worden war?
Wie konnte etwas so Brisantes so lange geheim gehalten werden? Der Missbrauch fand ja bereits vor von Marschalls erster Bundestagkandidatur 2013 statt und er kandidierte erneut 2017 und 2021. Nachdem die Betroffene Matern von Marschall 2018 angezeigt hatte, wurden die Strafermittlungen im Immunitätsausschuss des Bundestags diskutiert. Doch das Strafverfahren wurde durch die Freiburger Staatsanwaltschaft gegen eine Zahlung von 30.000 Euro geräuschlos eingestellt.
Ohne Zweifel hätte das Bekanntwerden der Causa Matern von Marschalls Wahlchancen verringert, wenn es ihn nicht sogar eine erneute Kandidatur oder das Mandat gekostet hätte. Sollte es also Mitwisser in der CDU gegeben haben, hätten diese bewusste WählerInnentäuschung betrieben. Deshalb stellt sich die Frage: Wann wusste wer in der CDU von wem von dem Skandal und später dann von dem Ermittlungsverfahren wegen schweren sexuellen Missbrauchs?
Wir haben die beiden Freiburger CDU-Stadträte Bernhard Rotzinger und Peter Kleefass mit unseren Informationen konfrontiert, dass zumindest sie beide vor der Nominierungsversammlung am 23. Oktober 2020 von der Affäre wussten. Bernhard Rotzinger war von 2014 bis 2019 Polizeichef von Freiburg und löste am 27. Juni 2019 Peter Kleefass als Freiburger CDU-Vorsitzenden ab. Beide Politiker haben nicht auf unsere Anfragen reagiert.
Und warum hat die Presse so lange geschwiegen? In Freiburg ist die Frage gleichbedeutend mit: Wieso schweigt die Badische Zeitung? Mindestens hat die Monopolpresse in ihrer Funktion als „Vierte Gewalt“ versagt, denn sie hat jahrelang nicht über den #MeToo-Skandal der Freiburger CDU berichtet. Ihre affirmative Berichterstattung über Matern von Marschall lässt sie als nützliche Idiotin der CDU erscheinen – falls sie all die Jahre tatsächlich nichts von dem Thema mitbekommen haben sollte. Das ist aber nicht nur wenig glaubwürdig, sondern unseren Informationen nach auch falsch.
Autonome Antifa Freiburg
Korrektur: In einer früheren Version hatten wir geschrieben, dass laut Welt Matern von Marschalls Immunität aufgehoben worden sei. Tatsächlich wurde laut SWR nur das Ermittlungsverfahren gegen ihn im Immunitätsausschuss des Bundestags diskutiert.